Papas Mütze


Das ist mein Papa. Wieder einmal war er mit meiner Oma auf einem ihrer berühmten Ausflüge. Diesmal besuchten sie zusammen mit einer Reisegruppe das Niederwalddenkmal.
Es liegt am Rand des
Landschaftsparks Niederwald oberhalb der Stadt Rüdesheim am Rhein und zu seinen Niederungen befinden sich die Weinanlagen des Rüdesheimer Berges. Es ist in der Zeit des deutschen Kaiserreiches entstanden und seit 2002 ist es Teil des UNESCO-Welterbes Oberes Mittelrheintal.

 

Wenn mein Papa das geahnt hätte, das er, als er als kleiner Junge dort vor dem Denkmal fotografiert worden ist, vor einem der Teile des UNESCO Welterbes stand, dann wäre er bestimmt unglaublich beeindruckt gewesen.

 

Mein Papa war an Geschichte und Politik sehr interessiert und verfolgte die Zeichen der Zeit mit großer Akribie. Es fiel ihm nicht immer leicht, zu sehen, was die Volksbeauftragten mit unserem Land anstellten und ich bekam als Kind auch oft mit, wie er sich über Ungerechtigkeiten heftig aufregte. Ich denke ihm als Polizist fiel es besonders schwer, das Rechtsverständnis mancher Leute zu akzeptieren oder nachzuvollziehen. Achtzehn Jahre ist er bei der Polizei gewesen, aber da er nie, oder eher selten mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, brachte er es nur bis zum Polizeiobermeister bei der Schutzpolizei.


Aber davon möchte ich heute gar nicht erzählen. Heute möchte ich von seiner bunten Mütze erzählen, die bei mir schon seit Jahren zur Aufbewahrung in einem kleinen Messingkasten liegt und vor sich hin schlummert. Manchmal hole ich sie hervor und betrachte sie wehmütig, weil ich dann in Gedanken an meinen verstorbenen Paps etwas traurig werde. Er selbst hat nie viel über die Zeit des Reisens mit meiner Oma erzählt. Trotzdem müssen es schöne Zeiten gewesen sein, dass belegen die Fotos die ich davon besitze und die Erzählungen meiner Oma.

 

Meine Oma war wie jeder Mensch auf ihre ganz eigene Art schwierig. Ich glaube es gibt keinen Menschen, der in irgendeiner Weise nicht schwierig ist. Und manche Menschen verstehen sich daher gut, manchen besser und manche eben gar nicht. Meine Mutter hat sich mit meiner Oma nie so gut verstanden, aber auch das ist eine Geschichte für die ich weiter ausholen müsste. Jedoch soll es ja jetzt um Papas Mütze gehen.
Meine Oma erzählte auf jeden Fall gerne und ich hörte ihr aufmerksam zu. Ich fand und finde Geschichten und Erzählungen von „Früher“ immer äußerst interessant.


Als Kind saßen meine Schwester und ich oft mittags beim Essen und dann sagten wir zu unserer Mutter: „Mama – erzählst du uns was von Früher?“ Das waren natürlich Geschichten aus ihrer Kindheit und wie sie diese Jahre erlebt hat, aber da zeigt sich eben mein Interesse zu allen alten Begebenheiten und Erlebnissen von realen Personen meines Lebens.

 

Zurück zu meiner Oma. Von ihr habe ich das Interesse an alten Sachen und deren Geschichte. Meine Oma besaß viele Sachen die man sammeln konnte, über Sammeltassen, Besteck und verschiedenes Porzellan, Tischdecken und anderen Nippes. Ich denke diese Sammelleidenschaft hat sie meinem Papa und mir vermacht. Meine Schwester ist dagegen eher so ein „Wegschmeißtyp“. Fragen Sie meine Nichte, sie kann es Ihnen bestätigen.

 

Nun wurde das Sammeln damals, als meine Oma noch jung war, sehr groß geschrieben. Wahrscheinlich weil die Menschen im Krieg so viel verloren hatten und den Wert der Sachen nun viel mehr zu schätzen wussten. Wir leben heute in einer „Wegwerfgesellschaft“ und das finde ich extrem schrecklich. Was wird heute nicht alles als wertlos erachtet und schwuppdiwupp weggeschmissen. Der Umgang mit so Vielem ist in meinen Augen verachtenswert. Das ist alt, da muss was Neues her. Das ist nicht mehr schön, nicht mehr „Up To Date“, nicht mehr mein Stil, nicht das was alle heute haben, nicht mehr zeitgemäß, nicht mehr modisch. Es ist eben in die Jahre gekommen und verbraucht. Dann muss was Neues her, bis das Zeug dem gleichen Urteil des Menschen unterliegt und auch den Weg auf die Halde der weggeworfenen und verlorenen Illusionen findet.

Ich schweife gerne ab, aber das ergibt sich halt so, wenn man sich gedanklich mit der Vergangenheit auseinandersetzt.

 

Da nun meine Oma sammelte und sie sich von ihrem ersten selbstverdienten Geld, ihre erste Sammeltasse kaufte, sammelte mein Vater als Kind natürlich auch was. Jedoch waren das nicht etwa Autos oder Eisenbahnen oder sonstige Dinge die ein dreizehn Jahre alter Junge damals so sammeln konnte. 1955 war mein Paps gerade dreizehn geworden und er sammelte Erlebnisse.
Er sammelte diese Erlebnisse und den Reisen die er mit meiner Oma unternahm und die beiden reisten nicht gerade wenig. Es waren keine großen und teuren Reisen. Das ging damals nach dem Krieg nicht und dazu kam, dass meine Oma und mein Opa sich auch noch als Friseurmeister selbständig gemacht hatten. Doch ihr Geschäft lief so gut, dass kleinere Reisen immer mal wieder drin waren.

Die Erlebnisse die mein Papa sammelte wurden in Bildern festgehalten. Mein Vater hat in seinen jungen Jahren gerne viel Fotografiert und er hat immer tolle Alben zusammengestellt. Davon profitieren meine Schwester und ich heute noch und wir können meiner Nichte anhand von den Fotos einiges erzählen und zeigen. Das finde ich sehr schön. Meine Nichte hat meinen Papa leider nicht mehr kennengelernt, er ist zwei Jahre vor ihrer Geburt gestorben, aber meine allerliebste Schwester hat das Andenken an unseren Paps durch Fotos und Geschichten an sie weitergegeben und auch ich darf ihr immer wieder von ihm erzählen. So lebt er in unseren Herzen weiter. Er fehlt mir manchmal so sehr.  


Vor zwei Tage da saß unsere Kleine noch mit ihrem „Lebens-Foto-bastel-„Alles-Mögliche“-Album“ am Küchentisch und sortierte ihre Gutscheine ein, die ich ihr letztes Jahr mit dem Album zum Geburtstag geschenkt habe. An der Fotoseite von ihrem Opa blieb sie hängen, stützte den Ellenbogen auf den Tisch und sagte zu mir: „Opa hätte mich bestimmt gerne kennengelernt.“
Davon bin ich überzeugt, er wäre für meine Nichte ein wunderbarer Opa geworden, genauso wie er ein toller Vater für meine Schwerter und mich war.

 

 

 

 

 

 

So sind nun meine Erinnerungen doch eher zum Mittelpunkt  meiner Geschichte geworden und mit der Erzählung von „Papas Mütze“ setze ich den Schlusspunkt.

 

Die Vorgeschichte hierzu ist in den Memoiren meiner Oma Anni zu lesen.

 Küche erstes Obergeschoss im Haus der Bormanns über dem Friseurladen. Bernd sitzt am Küchentisch und betrachtet nachdenklich seine Mütze. Schaut sich jeden Anstecker genau an und reinigt mit einem Bürstchen einige verschmutzte Stellen.

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   »Mama, sag mir, wann fahren wir mal wieder weg? Wir sind schon so lange nicht mehr verreist. An das letzte Mal kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern und weißt du Mama, ich glaube meine Mütze braucht dringend frische Luft und eine neue Anstecknadel.«

   »Aber Bernd, so lange ist das noch nicht her, dass wir in Boppard am Rhein waren. Weißt du noch es war gerade Weinfest und du hast die leckeren Trauben, den Käse und die Brezeln verputzt bis dir schlecht war. Außerdem können wir Papa nicht schon wieder allein lassen. Da fällt mir ein, dass ich unbedingt noch neue Dauerwellflüssigkeit bestellen muss und Frau Dreier kommt am Freitag um 15:00 Uhr zur Wasserwelle, das habe ich auch noch nicht in den Terminkalender eingetragen.«

  »Oh Mann Mama, immer denkst du nur ans Geschäft, nie denkst du an mich.«

 Anni bügelt die weiße Wäsche. Einen Kittel nach dem Anderen zieht sie auf dem Bügelbrett glatt, besprüht sie mit Stärke und heißer Dampf entweicht unter dem Eisen als die Hitze den Kittel glättet. Frisch gestärkt faltet Anni die Kittel ordentlich zusammen und legt sie akkurat aufeinander um sie später in den Schrank zu räumen. Sie liebt gestärkte Wäsche, sie vermittelt ihr immer den Eindruck von adretter weißer Eleganz. Dabei sagt sie verschnupft:

  »Das stimmt doch gar nicht mein Junge und zieh die Strümpfe hoch, wie du wieder rumläufst.«

  Bernd lässt sich von seiner Mutter nicht so leicht beeindrucken und antwortet starrköpfig:

 

  »Ja ich mach ja schon. Trotzdem Mama, sieh dir diese Stelle auf meiner Mütze an, ich brauche da schon lange ein Gegenstück zu der Mundharmonika aus dem Wuppertaler Zoo. Die ist so schwer, dass mir die Mütze immer an einer Seite vom Kopf rutscht.«

  Anni packt einen Stapel mit gebügelten Kitteln und während sie damit die Küche verlässt, sagt sie genervt:

 

  »Hör mal zu Bernd, ich habe jetzt wirklich was anderes im Kopf, als an unserer nächste Reise zu denken.«

 Da ruft der Vater unten vom Treppenabsatz laut zur Wohnungstür hinauf:

   »Anni, komm mal runter ins Geschäft, Frau Fichte braucht einen Termin.«

 Oh nein denkt Anni, reißt sich aber zusammen und antwortet rasch:

   »Ich bin am bügeln!«

 Doch der Vater bleibt stur und schreit zurück:

   »Dann stell das Ding so lange aus, zum Kuckuck.«

 Und hier mischt sich Bernd auch wieder ein und meint vehement:

   »Mama ich denke wir sollten wirklich verreisen, der Karl hat mir letztens von so einen Denkmal erzählt, dass würde ich…«

 Da fährt Anni aus der Haut und wütend brüllt sie ihren Sohn an:

   »Bernd jetzt sei still, ich kann es nicht mehr hören. Jeder will hier was von mir, nie hat man seine Ruhe. Immer ist was anderes und jetzt kommst du auch noch mit deinen Sonderwünschen.«

 Schon ertönt ein erneut deutlich überreizter Schrei aus den Geschäftsräumen:

   »Annnnni!«

 Ein leichter Anflug von Hass macht sich in Anni breit, doch sie ruft nur:

   »Jaaaaa, ich komm ja.«

 Bevor sie die Treppe herunter eilt ermahnt sie ihren Sohn noch mit warnenden Worten:

   »Bernd, mach ja keine Dummheiten, sonst kannst du dir überhaupt irgendeine Reise in den nächsten Jahren und überhaupt irgendwann abschminken. Hast du mich verstanden?«

   Eigentlich will sie keine Antwort von ihrem Sohn. In Wirklichkeit, will sie nur eins, nämlich mit Bernd allein und so schnell wie möglich wieder verreisen, um jeglichen widerlichen Launen ihres Mannes zu entkommen und die bohrende Stimme aus ihren gereizten Gehirnwindungen endlich wieder zu verdrängen. Aber Bernd weiß das natürlich nicht, er reagiert wie alle Kinder die ihren Willen nicht sofort bekommen und murrt beleidigt vor sich hin:

   »Das ist so typisch, die Erwachsenen denken immer nur an sich.«

   Anni hingegen erreicht etwas echauffiert den Tresen im Geschäft vor dem Frau Fichte schon ungeduldig wartet und sagt überfreundlich zu der Dame:

   »Kaum ist man mal nicht im Geschäft läuft hier alles drunter und drüber. Ach hallo Frau Fichte, wie geht es Ihnen denn, Sie brauchen noch einen Termin? Ja mein Mann ist immer so beschäftigt. Ach er färbt gerade ein, na ja, wir zwei bekommen das schon hin.« 

  Oben in der Küche hängt Bernd seinen Träumen nach. Er stellt sich vor wie er einmal um die ganze Welt reist und ferne Länder besucht und Tiere sieht, von denen er sonst nur in seinen Abenteuerbüchern gelesen hat. Sein Traum ist es mal nach Sri Lanka zu reisen da soll es unzählige wilde Elefanten geben. Bernd kennt sie nur aus dem Zoo, aber auch wenn die Tiere dort nur in Gehegen zu sehen waren, haben ihn die Dickhäuter unglaublich fasziniert. Diese Größe, die massigen Stoßzähne und wie die Elefanten mit ihrem Rüssel arbeiten können, dass alles stand ganz im Gegensatz zu ihren lieben Augen mit den langen Wimpern. Bernd schließt die Augen, als er sich daran erinnert, wie ein Elefant ihm mit seinem Rüssel die Mütze vom Kopf gefegt hat. Der Rüssel hat ihn nur ganz sacht gestreift. Bernd wusste, dass das Tier ihm nichts Böses wollte. Der Elefant war nur neugierig. Seine Mutter hingegen hatte eine halben Herzinfarkt bekommen und hatte ihn sofort vom Geländer des Geheges weggerissen. Er konnte gerade noch seine Mütze vom Boden grabschen, bevor ein anderer Zoobesucher darauf herum getrampelt wäre.

 

Bernd saß immer noch am Tisch und hantierte an seiner Mütze herum, als seine Mutter etwas atemlos die Küche betrat.
  Anni betrachtete ihren Sohn und die mütterliche Liebe die in ihr aufflammte verdrängte alle Sorgen, beruhigte ihre gereizten Nerven und lies auch die harten Worte ihres Mannes, die er ihr eben an den Kopf geworfen hatte, in den Hintergrund verschwinden. Sie setzte sich zu ihrem Sohn an den Tisch und streichelte ihm über den Kopf, dann sah sie ihn liebevoll an und sagte:
  »Na gut Bernd, dann sag mir doch mal wo wir als nächstes hinfahren sollen!«

   Bernd strahlte über das ganze Gesicht, als er in das Gesicht seiner Mutter blickte. Dann antwortete er mit dem ihm eigenen jungenhaften Charme mit dem er seine Mutter immer schon um den Finger wickeln konnte:

   »Lass uns nach Rüdesheim am Rhein fahren. Da gibt es Wasser und Berge und Du hast mir doch einmal erzählt, dass der Rüdesheimer Kaffee so gut schmecken soll. Ich möchte dort das große Denkmal sehen und von oben auf den Fluss hinunterschauen können.«

   Anni sah ihren Sohn sehnsuchtsvoll an, doch der kleine Bernd deutete den Blick seiner Mutter falsch und fragte vorsichtig:
  »Bist Du traurig Mama?«

  »Nein mein Junge«, antwortete sie, »ich bin so stolz auf dich und ich verspreche dir, es wird nicht mehr lange dauern, dann fahren wir beide dort hin. Wir werden uns alles ansehen was du möchtest meine kleiner, großer Junge.«

   Anni erhob sich küsste ihren Sohn flüchtig auf die Stirn und stieg die Treppe zum Friseursalon wieder hinunter. In Dauerwellen gerechnet brauchte es nur noch

 

Seit der Währungsreform vor sieben Jahren, war zwar alles teurer geworden, aber die Wirtschaft erholte sich langsam und auch das Reisen wurde erschwinglicher. Und sie wollte verdammt sein, wenn sie ihrem Bernd nicht ein weiteres Mal eine wunderbare Reise schenken konnte und es ihm so ermöglichte dem Ungleichgewicht seiner Mütze ein Ende zu setzen.