Seetiefen

08.09.2012


  Das Wasser des Sees umspülte seine Füße, leise schwappten kleine Wellen an die Unterschenkel seiner viel zu weißen Beine. Die Hose hatte er vorsorglich hoch gekrempelt, wie ein guter Junge, dem die Mutter sagt: „Mach Dich nicht nass!“ Lange hatte er nicht mehr, einfach so, frei und losgelöst ohne Druck, in einem See gestanden. Als Kind, so erinnert er sich, war er mit seinem Vater an einer Talsperre zum Schwimmen gewesen. Sein Vater hatte ihn beim übermütigen Toben gepackt und in hohem Bogen ins Wasser geschmissen. Was hatte er an dem Tag für einen Spaß gehabt?

 

  Ein Lichtblitz einer Erinnerung die ihn Glück empfinden ließ. Aber vorbei war vorbei, die Bilder verschwammen vor seinem inneren Auge, verschwanden unter einem Schleier von aufsteigendem Dunst. Nebel der Vergangenheit! Er stand in dem See und wartete verzweifelt auf den Wind, der ihm erneut die Sicht auf seine Kindheit freiblasen würde. Aber der Wunsch wurde nicht zur Wirklichkeit.

Nur das Wasser des Sees wogte mit beständiger Seichtheit um seine Beine. So stand er dort, eine lange Zeit, den Kopf gebeugt, den Blick auf das Wasser geheftet und in Gedanken versunken. Dann verdichtete sich graue Schwaden über seinem Gehirn zu einer zähen Masse und seine Überlegungen gingen in eine andere Richtung. In eine dunkle, düstere Richtung!

 

  Was, wenn er die Leiche tief im See versenken würde? Ja -  ein Boot mieten, den toten Körper darin auf den See hinausrudern, ihn mit einem großen Stein beschweren, und ab! Danach nur noch das Paket über den Rand des Bootes hieven, ja, ihn einfach über Bord werfen!

Ihn begraben in Unmenge von kaltem, schweigendem Wasser, dass niemand erzählen kann was es in schicksalhaften Stunden erlebte. Bodenlos würde die Leiche sinken und nie mehr ans Tageslicht kommen. Die Fische des Sees würden sich um sie kümmern und den Körper auf seinem Weg in die Unergründlichkeit begleiten. Später, wenn etwas Zeit vergangen wäre, würden die Seebewohner ihren Gast fressen!

 

  Diese Entsorgungsmethode erschien ihm als die Beste. Eine Nacht- und Nebel-Aktion, wie man so schön sagte. Ein Boot für zwei Tage mieten, eine Plane besorgen und ein Stein aus Mutters eigenem Garten. Ein dickes Seil und die Dunkelheit müssten genügen, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

 

  Ein unseliges Lachen schüttelte seinen angespannten Körper, nervös hob er den Kopf und sah sich gehetzt um. Doch niemand stand in seiner Nähe. Keiner war da, der ihn bemerkte, wie immer! Die Nichtbeachtung seiner Person würde ihm hierbei sehr nützlich sein. Unscheinbarkeit, konnte ein Fluch aber auch ein Segen sein. Diesen Zustand seines Seins würde er sich zu Nutze machen, um die sterblichen Überreste aus seiner Welt entfernen.

 

  Sehr vorsichtig watete er einige Schritte durchs Wasser, denn der Boden des Sees war äußerst steinig. Fast wäre er gestrauchelt, als er auf einen spitzen Stein trat, der im Seewasser als solcher nicht zu erkennen war. Er fluchte, sah sich erneut scheu um, und empfand auch diesmal Dankbarkeit für seine willentlich gelebte Isolation, die ihm seine fiktive Sicherheit schenkte.

 

  Er trocknete seine Füße ordentlich mit einem Stofftaschentuch ab, von denen er immer ein frisch gewaschen und gebügeltes in der Hosentasche hatte. Dann zog er seine Tennissocken an, die ihre weiße Farbe schon seit längerer Zeit eingebüßt hatten. Er steckte die abgenutzten Riemen durch die leicht verbogenen Schnallen seiner Sandalen und zog sie etwas zu fest zu. Er machte es extra, um zu spüren, dass der Schmerz über seinen beiden Fußrücken, der eintrat wenn das Blut nicht mehr richtig floss, echt war! Ein Signal, das er brauchte. Denn, wer Schmerz empfand, lebte noch!

 

  Etwas später, als er zu Hause die Tür der Wohnung aufschloss, sagte ihm der eigentümliche Geruch der Behausung „Hallo“. Leicht säuerlich umfingen ihn die übelriechenden Geruchsnoten der vier Wände und saugten sich an ihm fest. Er hasste die erste Minute, wenn er durch die Türe trat. Übelkeit machte sich in ihm breit, bis seine Sinne sich ihrem Schicksal ergaben, und sein Körper die Unausweichlichkeit des Gestankes akzeptierte.

 

  Mechanisch machte er sich ans Werk. Auf dem Rückweg vom See hatte er alle Sachen besorgt die er brauchte, um die Arbeit zu erledigen. Widerlich gekrümmt lag die Leiche vor ihm. So konnte er die Gestalt nicht anfassen. Schon zu deren Lebzeiten fiel es ihm mehr als schwer, irgendwelche Berührungen über sich ergehen zu lassen.

  Er wusste, wo die Mutter ihre Gummihandschuhe verwahrte, die sie zum Spülen benutzte.

Während er aus der Küche zurück in die Stube ging, zwängte er sich in die viel zu kleinen Handschuhe. Da lag der gealterte Leib und er konnte nicht umhin, ihn mit dem Fuß anzustoßen. Erst vorsichtig, dann immer ein bisschen fester, bis er merkte, wie er wütend auf das am Boden liegende Bündel eintrat. Grimmige Wut machte sich in ihm breit, als er mit verächtlicher Stimme sagte: „Nie wieder, nie wieder!“

 

  Er sah aus dem Fenster, es war dunkel geworden. Mit für ihn ungewöhnlicher Kraft, die er in festem Willen es zu tun, aktiviert hatte, schleppte er das geschnürte Paket die Treppe des Hinterhauses hinunter und schmiss seine Last unsanft in den Kofferraum seines neuen Autos. Ja, dass hatte er sich gegönnt, jetzt nachdem dieses Leben ein Ende gefunden hatte.

 

  Sein Fahrzeug parkte er ganz nah am Ufer, dort lag das kleine Boot und wartete auf den ungewöhnlichen Transport. Beim Öffnen des Kofferraums schlug ihm der modrig stechende Geruch entgegen. Fünf Tage waren eindeutig zu viel gewesen für die Verwahrung. Doch er konnte sich eigentümlicher Weise nicht von dem Anblick des verstorbenen Geschöpfes lösen. Zu spät war ihm klar geworden, dass die Verwesung bereits einsetzte hatte. Dann hieß es schnell zu handeln und sich einen Entsorgungsweg einfallen zu lassen.

 

  Bevor er das Bündel in das Boot brachte, knotete er den großen Stein an dem Ende des Seiles fest, mit dem er alles zusammengeschnürt hatte. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und beleuchtete den engen Pfad, der die Rückseite seines Wagens von dem Boot trennte, dass seine Fracht und ihn auf den stillen See hinausbringen sollte. Er wuchtete sich die verpackte Gestalt über seine schmale Schulter und trug sie geduckt, als hätte er Angst vor Entdeckung, zum Boot.

 

  Rechtzeitig zum Beginn seiner nächtlichen Bestattungsfahrt, verkroch sich der Mond wieder hinter ein paar dunklen Wolken, die nichts Gutes zu verheißen schienen. Er schob das Boot ganz aufs Wasser und sprang behänder, als man es ihm zugetraut hätte zu seiner Fracht ins Boot. Unter schwer atmenden Stöhnlauten ruderte er fast bis in die Mitte des Sees, um dort die schicksalhafte Beisetzung durchzuführen.

  Er achtete darauf, dass die Ruder fast geräuschlos ins Wasser tauchten. Er war bestrebt, auch weiterhin so verschwindend zu erscheinen, wie es ihm bisher gelungen war. Vor ihm lag eine undefinierbare Weite, da die Nacht seine Sicht veränderte. Angestrengt schaute er, während er ruderte, nach vorne. Kurz sah er auf seine Uhr, er lag gut in der Zeit. Akribisch hatte er den Ablauf der Bestattungszeremonie geplant, und er hatte nicht vor, von seinem Plan abzuweichen.

 

  Dann, unversehens, als ihm sein Gespür sagte, dass er weit genug auf dem See war, hielt er an. Er stellte sich im Boot auf und bewegte sich vorsichtig nach vorn zu der Leiche. Ohne zu zögern, packte er das Bündel und schob es Stück für Stück, Zentimeter für Zentimeter, über den Rand des Bootes. Es dauerte eine Zeit lang, bis er das Ding in die gewünschte Position gebrachte hatte, um mit einem letzten Schubs das Paket mit dem übel riechenden Inhalt über Bord zu stoßen.

 

  Sollte er noch ein paar letzte Worte sagen? Verdient hätte sie es! Durch die Kraftanstrengung schwerer als gewöhnlich atmend, kniete er vor der sterbliche Hülle. Ekelhaft süßlich stieg ihm erneut ein Schwall der Verwesung in die Nase. Ein Würgereiz machte sich in seiner Kehle breit und er richtete sich etwas auf, um Raum zwischen sich und die tote Gestalt zu bringen. Er schüttelte sich und beschloss, den Akt nicht mehr unnötig in die länge zu ziehen.

  Dann fasste er sie am Kopf und hob sie an. Schon glitt sie aus seinen Händen fort. Einige Sekunden schwamm sie noch auf der Wasseroberfläche, dann tauchte die eine Seite der toten Hülle weg und zog den restlichen Körper schnell und gleichmäßig hinterher. Mit einem Schwapp des Wassers verschluckte der See die sterblichen Überreste, und nichts blieb zurück als ein paar Luftblasen, die an der Seeoberfläche zerplatzen.

 

  Er starrte auf die Stelle, an der das faulende Fleisch versunken war, und hielt den Blick darauf gerichtet, bis kein einziges Bläschen mehr aus dem kalten, feuchten Grab drang. Abrupt erwachte er aus seiner Lethargie, die ihn zuvor ergriffen hatte, setzte sich zurück auf seinen Platz, ergriff die Ruder und strebte, ohne sich noch einmal dem Wasser zuzuwenden, dem Ufer entgegen. Kein Gedanke des Bedauerns eroberte sein Gehirn!

 

  Die Fahrt nach Hause schenkte ihm Befreiung. Fast fröhlich lenkte er das Auto in Richtung seines Heimatortes. Er fuhr zu seinem Haus und stellte den Wagen in die Garage, stieg beschwingt aus dem Wagen und knallte die Fahrertür zu. Dann schloss das elektrische Tor und ging durch die Verbindungstür von der Garage in den Keller seines Domizils.

 

  Dort reinigte er sich mehr als gründlich, an dem Waschbecken, das neben der Kellertreppe an der Wand angebracht war. Euphorisch wusch er sich die Hände und rieb die duftende Lavendelseife intensiv und lange über seine Haut. Er gab dem Wunsch nach, seine Arme und das Gesicht ebenfalls mit dem gut duftenden, Reinheit bringenden, Seifenschaum zu benetzen. Das Gefühl, dass das frische Wasser auch die letzten Erinnerungen dieses garstigen Kapitels seines Lebens abwusch, war berauschend für ihn.

  Nun konnte er neu beginnen, ohne sie, ohne die Verpflichtungen, die mit ihrem Dasein verbunden waren. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, stieg er die knarrende Holzkellertreppe hinauf, doch das Knarren störte ihn nicht. Im Gegenteil, es war eine willkommene Begrüßung durch ein altbekanntes Geräusch, das ihn in Sicherheit wog.

 

 Langsam ging er durch den Flur, und öffnete die Tür des Wohnzimmers, und sagte zum Sofa gewandt: „Es ist getan!“ Ein dankbar lächelndes Gesicht schaute ihn an, und weiter sprach er, direkt mit dem Blick auf ihre alten, aber doch immer noch blauen Augen geheftet:
  „Ab heute wirst Du bei mir wohnen, und ich bin doch wohl mehr wert als jeder Hund,
    - Mutter!“